Es ist ein Handwerk mit viel Tradition und wenig Maschinen: Reet-Dachdecker müssen nicht nur geschickt sein, sondern auch schwindelfrei und gelenkig. Den ganzen Tag schleppen sie Bunde auf das Dach, arbeiten mit Eisennadeln und Klopfbrettern, laufen über hölzerne Stege und tragen Knieschutz, damit das Reet nicht durch die Hosen sticht. Es staubt Pflanzenfasern, die Halme piken. Ein gutes Auge ist nötig, damit die Reetfläche dicht und gleichmäßig liegt. So ist es heute wie vor Urzeiten.
Vor 7000 Jahren besiedelten die ersten Menschen die Region zwischen Nord- und Ostsee. Zuerst Jäger und Sammler, stellten sie in den nächsten Jahrhunderten langsam auf Ackerbau und Viehzucht um. Wo bis dahin einfache Hütten und Zelte gereicht hatten, mussten nun festere Behausungen her für Familien und das Vieh. Holzbalken wurden mit Stricken und Latten zu Gerüsten aufgebaut und darauf kam: Reet. Das getrocknete Schilfgras war überall zu finden, leicht zu verarbeiten und es schützte vor Regen ebenso gut, wie es die lebenspendende Wärme staute. Löcher an den Giebelspitzen sorgten dafür, dass der Rauch aus den offenen Feuerstellen abziehen konnte. Feuer und ein Strohdach? Doch, das geht zusammen – der Ruß isolierte so-gar das Dach, machte es dadurch noch widerstandsfähiger gegen Insekten.
Kein Platz in der Stadt
Das Reetdach setzte sich in Norddeutschland über die Generationen durch, auch weil jeder Bauer es selbst decken und reparieren konnte. Einen speziell ausgebildeten Handwerker brauchte man damals noch nicht – man baute das Reetdach ja direkt am Boden, ohne gemauertes Erdgeschoss. Als im Mittelalter immer mehr Menschen in die Städte zogen, tauchte ein Problem auf: Wenn doch mal ein Reetdach Feuer fing, flogen die brennenden Ähren in der heißen Luft davon und entzündeten im Nu auch die Nachbarhäuser. Das war zu gefährlich. Die Stadt Flensburg z. B. verbot deswegen 1388 das Reetdach innerhalb seiner Stadtmauern. Auf dem Land blieb es jedoch weiterhin beliebt.
Wenn man Ole Jedack auf die Feuergefahren durch Reet hinweist, lächelt er. Der Experte von der Vereinigung Pro-Reet kennt diese Sorgen: „Früher war das sicher ein Problem. Aber mittler-weile wird Reet durch Stahldrähte auf dem Dach gehalten. Wenn es doch mal brennt, greift es nicht auf andere Häuser über. Damit ist ein Reetdach heute so sicher, dass man inzwischen nur noch sechs Meter vom Reetdach zum nächsten Grundstück Abstand zu halten braucht – früher waren es zwölf.“
Obwohl das Reetdach eine sehr langeTradition hat und auch Feuerversiche-rungen dafür keine Unsummen mehr kosten, gab es in den letzten vier Jahren immer wieder negative Schlagzeilen: Angeblich vergammelten die mit Reet gedeckten Dachstühle, Feuchtigkeit und Pilze seien allgegenwärtig. Ole Jedack winkt ab: „Probleme kann es nur geben, wenn die fachlichen und baulichen Grundregeln nicht eingehalten werden. Das ist bei anderen Baumaterialien auch nicht anders.“ Genauer: Viele Bauherren bevorzugen heutzutage flache Dächer, die mehr Wohnraum überspannen. Bei einem Reetdach muss die Neigung aber mindestens 40 Grad betragen, damit das Regenwasser ablaufen kann, ohne sich im Reet festzusetzen. Das wurde teils einfach ignoriert. Außerdem hatte mit dem Ausbau von Dachböden für Bäder und Schlafzimmer die Luftfeuchtigkeit unter dem Dach immer mehr zugenommen. Die natürlichen Ausgleichsmöglichkeiten des Reets wurden dadurch in vielen Fällen überfordert.
Reet ist wieder angesagt
Das ist längst vorbei. Heute werden neue Reetdächer meistens als „Kaltdächer“ gebaut, bei denen die Luft hinter dem Reet ausreichend zirkulieren kann. Das sorgt für ein gutes Klima und lässt die Feuchtigkeit abziehen. Bei fachgerechtem Ausbau kommt es zu keinen Problemen mehr. Mittlerweile spricht man von einer echten Renaissance des Reetdachs. Nicht nur alte Bauernhäuser werden damit restauriert, auch Neubauten bekommen wieder die traditionelle Abdeckung. Was Ole Jedack ganz besonders freut: „Immer mehr Besitzer von ursprünglichen Reetdach-Häusern, die Schindeln oder Ziegel tragen, lassen rückbauen, holen sich wieder Reet auf ihr Dach. Es passt einfach besser zur Form des Dachstuhls.“
Reetdächer sind wunderschön und altern natürlich auch nach – aber was ist mit der Anfälligkeit, von der man oft liest? Der Experte nickt: „Wer ein Reetdach will, will etwas Besonderes. Darum muss man sich in der Tat ein wenig mehr kümmern. Laub darf nicht lange auf dem Dach liegen bleiben. Moos muss entfernt werden. Wenn so ein Dach richtig ’gewartet’ wird, hält es genau so lange wie ein Hartdach.“
Reet: viele Vorteile
Viele Reetdachdecker bieten an, über die Jahre immer wieder die von ihnen gelieferten Dächer zu inspizieren. Reet-TÜV vom Handwerker sozusagen. Chemie kommt an den natürlichen Baustoff übrigens nicht ran, erklärt Jedack: „Das wurde immer mal probiert, um die Halme zu versiegeln. Aber das wäscht der Regen raus und es endet im Boden. So was will keiner.“ Reetdachdecker Udo Berger gibt ihm recht: „Ein gutes Reetdach braucht keine Chemie!“ Er muss es wissen: Dutzende Häuser nahe der Ostseeküste wurden von ihm schon neu oder erstmals eingedeckt. Er wohnt „unter Reet“ und schwört darauf.
Dass sich Reet beim Hausbau so gut durchsetzen konnte, ist leicht nachzuvollziehen: Es wächst schnell nach, ist gut trocken zu lagern und lässt sich auf praktisch jede Dachform zuschneiden. Bauliche Eigenheiten, wie sie gerade bei alten Häusern oft vorkommen, sind für Reet kein Problem. Geerntet wird das Schilfgras in Sumpfgebieten tot, also nach dem ersten Frost, wenn die Halme braun werden. Früher nahm man spezielle Sensen, heute säbeln riesige schwimmende Reet-Erntemaschinen die Pflanzen ab. Selbst für den Laien ist von Hand geschnittenes Reet leicht vom Maschinenschnitt zu unterscheiden: Es ist angeschrägt wie eine Blume aus dem Laden, während die Mengenware perfekt waagerecht abrasiert ist. Durch die zunehmend kontrollierte Bebauung von Feuchtgebieten kann der Bedarf allein aus Deutschland nicht mehr gedeckt werden. Viel Reet stammt aus Polen, Rumänien, der Türkei, sogar China. Gereinigt werden muss es nicht: Reet wird vor dem Versand sorgsam gebürstet. In Bunden kommt es dann nach Deutschland.
Reetarbeit ist Handarbeit: Die einzige Maschine ist der elektrische Lift, der die Bunde zu den Arbeitern hochfährt. Die Verlegung eines Reetdachs ist Profiarbeit, besonders wenn das Raum-klima bedacht werden muss und das Dach hinterher auch 40 Jahre halten soll. Pfusch am Bau merkt man sehr schnell, wenn das Reet zu flach liegt und sich Feuchtigkeit festsetzt. Mit dem Dach ist die bauliche Nutzung des Reets noch lange nicht erschöpft, es eignet sich auch ausgezeichnet zur Wand- und Deckendämmung, idealerweise in Kombination mit atmungsaktivem Lehmputz. Wer sein Bad so renoviert, braucht nach der Dusche keine beschlagenen Spiegel zu fürchten – die Reet-Lehm-Wand nimmt die Feuchtigkeit komplett auf und gibt sie nur langsam wieder ab. Fragt man den Experten Ole Jedack, was den besonderen Reiz des Reets ausmacht, muss er nicht lange nachdenken: „Durch das Reet wirkt es, als habe das Haus eine schützende Mütze auf. Sieht das nicht gemütlich aus?“ Da hat er recht.
Torsten Dewi